Bindungs- und Beziehungstraumata - ein kleiner Einblick
- Sabine Terhorst
- 27. Juni
- 5 Min. Lesezeit

Ich möchte gerne erstmal mit der Frage einsteigen, was denn eigentlich ein Trauma ist. In meiner Wahrnehmung wird mit diesem Begriff sehr großzügig umgegangen, z.B. in der Sprache meiner Kinder ist schon das "falsche" Essen ein traumatischer Moment. Aus therapeutischer Sicht finde ich das sogar ganz lustig, denn der enge Definitionsbegriff eines Traumas beschreibt eine Situation, in der die üblichen Überlebensstrategien nicht mehr greifen können und das ausgelöst wird durch überwältigende Ereignisse ( z.B. Gewalttat, Krieg oder Katastrophe) und die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Ich finde nicht, dass mein Essen in diese Kategorie passt. 😉
Allerdings gibt es gerade im therapeutischen Bereich in den letzten Jahrzehnt neuere Forschungen und Betrachtungsweisen, die das Entwicklungstraumata beschreiben. Hierbei geht es darum, dass für ein kleines Kind, welches in einem besonderen Umfeld aufwächst, gewisse Situationen überwältigend wirken - auch wenn diese für einen Erwachsenen eine sehr banale Situation darstellt. Beispielsweise beschreibt man hier, dass ein Kind, das man schreien lässt und nicht tröstet und versorgt, damit vollkommen überfordert ist, sich selbst zu regulieren. Es ist darauf angewiesen, dass Menschen kommen, die sich um es bemühen, es halten und nähren. Es hat kein Zeitgefühl und auch noch keine Logik, die erklären kann, warum Mama oder Papa nicht kommen. Für das Kind bedeutet es einfach nur, dass niemand da ist und es auf sich alleine gestellt ist und wenn das so bleibt, wahrscheinlich sterben muss. Anfänglich ist da vielleicht noch ein Protest, dann wird es wütend und wird fordernder und wenn dann immer noch nicht reagiert wird, muss es entweder seine Gefühle abspalten oder einagieren und gegen sich selbst richten.
Gott sein dank sind Kinder doch recht anpassungsfähig. Potentiell könnte so ziemlich alles auf ein Kind traumatisierend wirken. Das Unterlassen genauso wie das Überbehüten der Eltern. Doch natürlich empfängt so ein kleines Lebewesen auch all die guten Umsorgungen, das Gehaltensein und das Coregulieren der Bezugspersonen. Somit entwickeln wir uns Gott sei dann meist zu recht anständigen Menschen, die ihr Leben mehr oder weniger gut bewältigen können.
Dennoch haben wir uns im Verlauf unserer kindlichen Entwicklungen vielleicht an die ein oder andere Bedingung, die nicht ganz ideal war, anpassen müssen. Oft ist das so, wenn die eigenen Eltern beispielsweise sehr schwierige Ausgangsbedingungen hatten. Meine Mutter war beispielsweise ein Kind von Eltern, die zweimal flüchten mussten und mein Opa war in Russland in Gefangenschaft. Mein Vater war ein kleiner Junge, als er den zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Beide hatten so ihr Päkchen zu tragen und selbstverständlich war es ihnen nicht immer möglich, sich zu 100 % auf ihr manchmel vielleicht doch recht forderndes und anstrengendes Kind einzulassen. Damit will ich sagen, dass es einfach menschlich ist, dass man Kinder nicht immer komplett versteht und sich auf sie einstimmen kann. Wenn das aber regelmäßiger vorkommt, entwickeln Kinder Anpassungsstrategien, um in ihrem familiären Umfeld besser zurecht zu kommen und unter allen Umständen die Bindung zu erhalten.
In NARM (Neuroaffektives Beziehungs-Modell) geht man von 5 Anpassungsstrategien aus, die auch altersbedingt entstehen. Im Vordergrund steht dabei das eigentliche Kernbedürfnis, was in dieser Lebensphase eigentlich befriedigt werden wollte - aber vielleicht nicht immer konnte. Es sind wichtige Überlebensstrategien und werden deshalb auch so genannt, weil aus Sicht eines Kindes die Bindung zu den Eltern überlebenswichtig ist. Das ist es, was unter allen Bedingungen zu schützen ist. Es wird in dieser Therapieform auch als Organisationsprinzip bezeichnet. Also eine "Methode" eines Kindes, sich so zu organisieren, dass es überleben kann.
Die Kernbedürfnisse:
Kontakt - Ein Baby braucht Berührung, Gehalten werden, Genährt werden.
Einstimmung - Bezugspersonen, die sich auf die Gefühle und Bedürfnisse des Babies und Kleinkindes einstimmen können.
Vertrauen - Das wachsende Kleinkind lernt eine gesunde, wechselseitige Abhängigkeit, die von keine Bedingungen abhängig sein sollte
Autonomie - Selbst sein dürfen, autonom werden dürfen, Grenzen setzen
Liebe und Sexualität - Sich mit offenem Herz jemanden zuwenden können
Vielleicht hast Du beim Lesen innerlich direkt nachgespürt, ob all diese Kernbedürfnisse in Deiner Kindheit erfüllt wurden. Manches ist Erinnerbar (Explizites Gedächtnis) und manches ist aber tief in unserem Unterbewusstsein abgelegt und wir haben kein konkretes Erinnern daran (Implizites Gedächtnis). Das ist einfach auch wichtig, dies zu unterscheiden. Denn gerade im Bereich der Kontaktbedürfnisse gibt es Generationenbedingt tatsächlich großes Potential, nicht genügend bekommen zu haben und vielleicht sogar traumatisiert zu sein.
Meine Mama hat mir erzählt, dass es vollkommen üblich war, dass in der Zeit, in der ich geboren wurde, die Kinder von der Mutter getrennt wurden und nur alle 4 Stunden zur Mutter gebracht wurden um gestillt zu werden. Es gab Erziehungsratgeber, die die Mütter angehalten haben, das Baby nicht zu sehr zu verwöhnen und es ruhig schreien zu lassen. Es würde so lernen, sich zu regulieren. Heute weiß man, dass das ein Baby gar nicht kann. Es braucht die Bezugsperson dazu. Damit gibt es in meiner Gerneration ein wirklich großes Potenzial bei dem Bedürfnis "Kontakt" in diesem Sinne traumatisiert worden zu sein. Die Reaktion darauf ist zum Beispiel, sich eher zu isolieren und den echten Kontakt zu anderen Menschen zu meiden.
Aber auch heute geben die Krankenhäuser und deren Bedürfnis nach Planbarkeit mit einer viel zu großen Anzahl an Kaiserschnitten Anlass zu Traumatisierungen von Kleinkindern. Das kann tatsächlich problematisch werden, wenn das Kind nach der Geburt unerwartet reagiert (weil durch die Geburt selbst traumatisiert) und viel zu viel schreit und man damit auch irgendwann total überfordert ist. Es gibt dann oft die Reaktion, dass man dann lieber aus dem Zimmer geht um schlimmeres zu verhindern. Oder dass man beginnt, alles Mögliche zu vermeiden, damit das Kind nicht wieder einen Wutanfall bekommt oder weinen muss. Das bedeutet allerdings auch, dass man es so von seinem Bedürfnis nach Autonomie abschneidet.
Du siehst: es ist verdammt schwer, alles richtig zu machen! Es geht auch bei der Arbeit mit diesen Beziehungs-Traumata nicht darum, die Eltern vor ein Gericht zu stellen. Vielmehr geht es darum, anzuerkennen, dass es vielleicht damals Umstände gab, die eine Anpassungsstrategie erforderlich gemacht haben. Sie war damals sinnvoll - begleiten Dich aber heute immer noch. Ein Teil der therapeutischen Arbeit ist es dann, mehr und mehr zu erkennen, dass Deine Reaktion auf eine aktuelle Situation von den damaligen Gefühlen beeinflusst wird und Du heute ganz andere Möglichkeiten hast.
Ich denke, das ist auch das Wichtige daran. Wie kann ich heute entscheiden? Welche Möglichkeiten stehen mir heute zur Verfügung? Mein Erleben in der Situation ist vielleicht geprägt von meinen damaligen Gefühlen von Hilflosigkeit und Trauer, aber ich bin nicht mehr das kleine Kind, das diese Gefühle hatte.
Und ich habe noch eine wichtige Botschaft an alle Mütter und Väter, die gerade kleine Kinder haben: es ist unmöglich, alles richtig zu machen! Die sozialen Netzwerke sind voll von Horrorstories, die Ratschläge geben wollen, wie man Traumatisierungen vermeidet. Die Bedürfnisse der Kinder sollen IMMER richtig beantwortet werden. Und auch ich schreibe diesen Blogbeitrag, in dem genau das unterstrichen wird. Allerdings erlebe ich in der Arbeit mit meinen KlientInnen immer wieder, dass sie dieses "Wissen" so massiv stresst, dass sie nahezu handlungsunfähig werden, wenn es um schwierige Situationen mit den eigenen Kindern geht. Eigene Bedürfnisse werden dann (fast) gar nicht mehr wahrgenommen und das Kind erhält keine klaren Strukturen darüber, was "richtig" und "falsch" ist. Ich denke, die meisten Entwicklungspsychologen würden mir aber Recht geben, wenn ich schreibe: Kinder brauchen Grenzen. Und diese dürfen auch klar gezogen werden. Und es ist auch wichtig für Kinder, dass Mama und Papa eigene Bedürfnisse haben. Es ist sogar sehr wichtig, dass sie lernen, dass es auch hier Grenzen gibt. Wo sonst sollten sie denn lernen, wenn nicht in einem liebenden Umfeld, in dem ihre Frustration darüber gehalten werden kann.
Keine Bedürfnisse als Mutter oder Vater zu haben bedeutet, zu verschwinden. Es bedeutet, vor dem Kontakt mit dem Kind zurückzuweichen. Und das ist sicher nicht das, was es braucht! Zumindest in meiner Welt, mit meiner Auffassung und mit den eigenen Erfahrungen und meinen eigenen Fehlern, die ich in der Erziehung meiner Kinder gemacht habe. Ich hoffe, das erreicht Dich!
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